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E n t w i c k l u n g s h i l f e

 

 

Ich habe dich aufgenommen.

Nun wirst du

entwickelt.

 

Ich hoffe,

du machst dich gut

auf dem Bild

das ich mir mache

von dir.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

M a t h e m a t i k

 

 

Am Strand stehen

die Wellen zählen

sich immer wieder

verzählen

weil die Summe

unendlich ist

 

Das Geheimnis aller Horizonte

ahnen:

 

die irrationale Zahl

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Ohr

 

 

Ich lebe in der Stadt.

Ich habe keine

Bäche zu überschreiten,

sondern den Fahrdamm

(möglichst da, wo Ampeln

stehn).

 

Ich höre nicht den Wind

in den Blättern -

ich höre den Verkehr.

Ich weiß nicht, wann

die Sonne aufgeht,

ich weiß nicht, wann

sie untergeht -

ich sehe, daß die

Beleuchtung ein -

und ausgeschaltet wird.

 

Ich lebe mitten in der Stadt.

Doch den Geruch von Gras,

den frischen Grasgeruch

nach Regen -

 

den hab ich noch im

Ohr.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

D e r   Z a u b e r e r

 

 

Ich nehme ein Wort

und stecke es

in diesen Zylinder

 

Neun neue Wörter

kommen heraus

(lauter kleine weiße

Kaninchen)

                  

Wie fruchtbar sie sind !

                  

Schon wimmelt es von

Wörtern

schon kann ich sie nicht mehr

zählen

schon fallen sie über mich

her

 

Ich hebe den Stab

und mache das

Zeichen:

                  

Da werden tausend Kaninchen

tausend winzige Schlangen

und starren sich selber

fassungslos an

                  

                  

 

 

 

 

 

 

 

 

F r e u n d s c h a f t

        

 

Ich schieße

 

Ich schieße mich ein

 

Ich schieße mich ein

auf dich

 

Schon ist dein linkes Ohr gestreift

 

Biet mir die Stirn !

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Z  u r  L a g e

 

merken

bemerken

sich etwas merken

 

gleich:

 

sich Markierungen machen

auf Mark und Pfennig

genau

 

Berlin

liegt noch immer

in der Mitte der Mark

 

Merkwürdige Dinge

gehen dort vor

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

E i s k u n s t l a u f

 

 

In der Pflicht hatte er versagt.

Doch in der Kür

überstrahlte er alle.

Trotzdem

erhielt er keinen Preis.

 

Das war der Preis.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

R a t i o n a l i s m u s

 

Im Rathaus die Räte

wissen stets Rat

 

Das bringt uns noch unter die

Räder

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

K o n j u g i e r t e s   V o r u r t e i l

 

 

Ich weiß -

du schwarz

 

Ich weiß:

du böse

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

W o r t e

 

 

Mein Wort zum Sonntag

dein Wort zum Montag

sein Wort zum Dienstag

ihr Wort zum Mittwoch.

 

So viele Tage

so viele Worte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

A m e i s e n

 

 

Mein Gedicht

mein Gedachtes -

gesteckt ins Gestrüpp,

dort wächst es.

 

Die Ameisen

bringen ihm Nahrung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Hemd

ist mir näher als

der Rock.

Komm näher, mein Rock!

Sei du mein Hemd!

Als mein Hemd,

mein Rock,

wirst du mir näher sein

als mein Hemd.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

I n   R o m

 

 

Die sieben Hügel

sind nicht zu sehen,

wenn sich der Obus

ruckweise voranschiebt.

Was willst du ?

Die Hand hängt im Griff,

der Schweiß zieht Linien:

Du bist in Rom.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

P e r s o n e n b e s c h r e i b u n g

 

 

Er arbeitet bei Siemens

 

Mehr

ist über ihn nicht zu sagen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

K a s p e r l t h e a t e r

 

 

Hallo Gretel !

 

Hallo Kaspar !

 

Wo steckt der Teufel ?

 

Wie stets:

                                im Detail !

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

U n d   w a n n   i s t   F r i e d e n  ?

 

 

Frieden ist,

wenn Onkels Geburtstag wieder wichtig wird;

wenn Birgit sich von ihrem Freund

am Telefon verleugnen läßt

(er hat kein Wort gesagt zu ihren neuen Clips);

wenn Vater überlegt,

ob er das Auto wechseln soll;

wenn Mutter mit dem Bäcker nicht zufrieden ist,

weil er zu scharf die Brötchen buk.

 

Wenn Frühling nichts als Frühling ist

und Sommer nichts als Sommer,

ist Frieden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Stop !

Das Stoppeln

zwischen den Stoppeln

wird von sofort an

gestoppt.

 

Schließlich

leben wir nicht mehr im

Nachkrieg,

sondern in Zeiten !

Wer jetzt noch stoppelt,

ist von Grund auf

verdächtig.

 

Sie

sind gemeint,

Sie einzelner

Einzelner

mit dem suchenden

Blick.

Was heißt hier: genügsam?

Wir haben genug,

wir brauchen nicht mehr

genügsam zu sein.

 

Ihnen

genügt das wohl nicht ?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

D e r  B ü r g e r -

(frei nach Ionesco)

 

Wen er seinen

Hut nahm,

den Stock, die zusammengefaltete

Zeitung

und so die

Straße betrat,

war alles in

Ordnung, war

er

die Ordnung.

Die Sonne schien

vom Himmel

nach Vorschrift.

 

Doch immer, und

wo er auch ging,

folgte sein

Schatten ihm nach.

 

Der sah aus wie

ein Nashorn.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

M a r i e   H a m s u n,   z e h n j ä h r i g

 

 

Wenn sie ganz sicher war,

daß nur der Herr Jesus sie sah,

stieg sie hinauf zum Zuckertopf

und naschte.

 

Aber die Mutter  merkte es doch

und sagte:

"Jetzt weint der Herr Jesus,

weil du so unartig warst."

 

Das traf sie tief.

 

Doch bei nächster Gelegenheit,

wenn sie wieder ganz sicher war,

daß nur der Herr Jesus sie sah,

naschte sie wieder.

 

Und so sind wir alle.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

M u s i k

 

 

Wenn Herr und Hund

täglich

zu selben Zeiten

die selbe Straße betreten

weiß niemand: wer

wer

 

Die Leine -

reversibles Gerät

fragwürdiges Signum

der Herrschaft -

gibt keine

Auskunft

 

Vielleicht:

man sollte sie mit

Glöckchen behängen

hellklingenden

oktavengerecht:

                  

Problem nicht gelöst

aber Musik

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

R ä d e r

 

 

Sie sind so rund.

So rund sind sie -

ich kann mich nicht sattsehn

an ihrer Rundheit.

 

2 rp -

das ist die Formel

für ihren Umfang.

Ich weiß nicht,

wer sie herausfand -

aber recht hat er, der Mann.

(Jeder Schüler kann es beweisen.)

2 rp -

die Formel für Vollkommenheit.

Wer zeigt mir

Vollkommeneres

als ein Rad ?

 

Räder -

 

Räder mußten rollen für den Sieg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

B e v e r l y  H i l l s

 

 

Hier wohnen die Götter.

 

Der Sightseeing-Bus rollt langsam

zwischen den zaunlosen Gärten.

Die in ihm sitzen, wohnen

hier nicht.

 

Sie schauen und schauen,

sind selig: Hier

wohnen die Götter !

 

Tränen des Glücks

hinter den blendfreien

Scheiben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

B e i   S o n n e n a u f g a n g

(Hotel Los Fariones, Lanzarote)

 

Die Palmenwedel klappern im Morgenwind.

Das Meer kriegt glänzende Flecken.

Am aufgeregtesten aber sind die

eintausendachthundertneunundneunzig Vögel des Gartens:

Sie rufen und rufen aus Leibeskräften

 

und wundern sich,

daß auf den viele Balkonen kein einziger Mensch steht,

die Sonne zu grüßen

wie sie.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

G l ü c k

 

Das Jahr ist gnädig:

Es schickt den Alten einen milden November.

Frau Papke sieht auf ihrem Balkon

die Blumen zum zweitenmal blühen.

Sie sagt am Telefon zu ihrer Tochter:

Ich bin ja so glücklich !

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

D i e  T a u b e n  v o n  B e r l i n

 

 

Ihre Ahnen waren gezähmt

und hausten in engen Verschlägen

dicht unter den Dächern der Stadt.

 

Der Krieg setzte sie

frei.

 

Also - höre ich sagen -

hat er wenigstens diesen

Gutes gebracht!

                            *

Heute klagen die Hauseigentümer

über Schäden an Blechen

und Rinnen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

K l e i n e  S t a d t

 

 

Die beiden sind im Gemunkel,

sagte die eine Frau zu der anderen

(im Café neben dem Markt),

und die andere nickte.

 

Das fremde Paar, das am Nebentisch saß,

hörte das Wort und erschrak:

Zwanzigtausend - laut Stadtführer -

wohnten am Ort, und zwei davon

im Gemunkel !

 

Als sie dann später die alten Straßen

begingen und sich dieses ansahen und jenes,

da ging es mit ihnen mit,

das Gehörte. Aus allen Türen,

allen Fenstern, allen Luken schien es

zu kommen: Gemunkel.

 

Und sie blieben nicht über Nacht,

sondern gingen zum Bahnhof,

stiegen ein in den Zug, der eben dort hielt,

und reisten ab.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

F a h r t  m i t  d e m  B a l l o n

 

 

Zerstöre nicht die Reise,

indem du die Reißleine

vorzeitig ziehst.

 

Es ist ganz still um dich.

 

Was die Leute dort unten reden,

das kannst du hören ohne Mühe.

 

Es ist ganz still um dich.

 

Wenn du genau hinhörst,

kannst du vernehmen,

was sie denken.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

B r ü c k e n

 

 

Über sie gehen

über sie nicht gehen.

 

Sie sprengen

und

sie wieder errichten.

 

Sie wiederum sprengen

und wiederum wieder

errichten.

 

Mit einem Namen

sie nennen

der tragfähig ist.

 

Den Namen

vergessen.

 

Vergessen, daß man

den Namen vergaß.

 

Um Überbrückung

bitten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

M i l i t ä r i s c h e  L a u f b a h n

 

Am 3. 9. erhielt er den Gestellungsbefehl.

Am 10. 9. rückte er ein.

Am 17. 11. rückte er ins Feld.

Am 19. 11. bekam er den Schuß in den Rücken.

 

Scheiße, sagte der Unteroffizier.

Sieht aus, als hat er ausrücken wolln.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

P o l e n m a r k t  1 9 8 9

(Berlin, Kulturforum)

 

Sie kommen in der Nacht,

Auto um Auto,

und steuern die Staatsbibliothek an,

die Philharmonie,

die Nationalgalerie.

Dort wird der Gepäckraum geöffnet:

Der Osten schüttet seinen Reichtum aus.

 

Und sie legen ihn hin,

uns zu Füßen,

uns,

ihren Besiegern,

uns,

ihren Besiegten.

 

Und der 1. September `39 ist fern

wie die Schlacht im Teutoburger Wald.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

B e r l i n,  N i k o l a i v i e r t e l

 

 

Natürlich ist`s Schwindel.

Aber der Schwindel tut gut.

Warum also nicht ?

 

Sitz vor dem "Nußbaum"

(Schweinebraten mit Klößen

und ein Pilsator)

und höre die Glocken von St. Nikolai.

Sieh die altersgeschwärzten Ziegel der Kirche:

der älteste Bau von Berlin!

Und die Häuschen rundum:

Wie aus dreimal hundert Jahren

stehengeblieben dem heutigen Tag.

 

Natürlich ist`s Schwindel.

Wie St. Nikolai

ist auch alles andere

geholt aus dem Bauklötzchenkasten

der Kunstgeschichtelmänner.

Du mußt vergessen den Fernsehturm,

die Hochhausscheiben an der Leipziger Straße.

Du mußt so ungeheuer viel vergessen -

sonst wirkt er nicht, der Schwindel,

der gut tut.

 

Ist es also erlaubt,

uns so zu beschwindeln ?

 

Ich sehe Fontane und höre ihn sagen:

ein weites Feld...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

F l u g h a f e n  B e l i n -  S c h ö n e f e l d

 

 

Tücher warten auf ihre Männer.

Sehr viele Tücher: Istanbul.

Dazwischen jemand

aus anderem Volk.

Er will nach Skopje,

sagt er am Schalter der Information.

Wo liegt Skopje ?

 

Flug aus Mahon - Ankunft: 14 Uhr 30.

Erwartet: Vier Stunden später.

Der Shuttle-Bus fährt heute nicht.

Wir müssen zum Bahnhof zu Fuß.

Vorher noch eine Frage:

Wissen Ihr, wo Flugzeug nach Masmi ?

Wir wissen es nicht.

 

Wir müssen zu Bahnhof zu Fuß.

Fünf Polen (Russen ?) schleppen vieles Gepäck uns entgegen,

zwei gelbe Gartenschläuche dabei,

neu und sauber zusammengerollt.

Es regnet.

Von tausend Schildern voller Reklame

fallen die Tropfen.

Autoherden parken geduldig.

Von weitem sieht das Flugplatzgebäude

wie ein Karton aus, den einer

gleich mitnehmen wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

T h e m e n w e c h s e l

 

 

Vor fünfzig Jahren sagte Brecht,

es sei fast ein Verbrechen,

über Bäume zu reden.

 

Heute gilt als Verbrechen,

n i c h t  über Bäume zu reden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

W o  d i e  M a u e r  s t a n d

 

Schützenkönig war hier,

wer danebenschoß.